"Statthalter des Unrechtsstaates"
Die Bürgermeister von 1933 bis 1945
Zu den " Statthaltern des Unrechtsstaates – Die Bürgermeister von 1933 bis 1945" schreibt Dr. Matthias Schmandt folgendes:
„Die Gleichschaltung“ des Stadtrates durch das nationalsozialistische Regime setzte im Frühjahr 1933 ein. Zunächst sollten in ganz Deutschland die Kommunalparlamente gemäß dem Ergebnis der Reichtagswahl vom 5. März 1933 neu besetzt werden – damit war jedoch in Bingen noch keine Mehrheit der NSDAP erreicht, die hier niemals aus einer freien Wahl als Sieger hervorging. Die Hitler-Partei setzte auf Einschüchterung: Regelmäßige SA-Aufmärsche anlässlich von Ratssitzungen taten ihre Wirkung. Im Juli 1933 saßen im Rat nur noch Mitglieder der NSDAP. Mit der ,Deutschen Gemeindeordnung‘ von 1935 wurde den Stadtverordneten der imposante Titel ,Ratsherren‘ als Ersatz für echte politische Mitspracherechte verliehen. Die ,Ratsherren‘ wurden durch den örtlichen Beauftragten der NSDAP bestimmt. Auch die Einsetzung der Bürgermeister erfolgte durch die Kreisleitung.
1933, 1941 bis 1945: Fritz Wagner
Am 27. Mai 1933 wurde Wagner kommissarisch als erster NS-Bürgermeister eingesetzt. Der gebürtige Binger hatte nach einemabgebrochenen Jura-Studium als Journalist bei der Rhein- und Nahe-Zeitung gearbeitet und wurde 1932 Redakteur des NS-Blattes ,Binger Kreis-Anzeiger‘. Nach der Berufung von Heinrich Ritter zum ,ordentlichen‘ Bürgermeister amtierte Wagner, der aufgrund einer Kriegsverletzung von 1916 nicht nur Wehrmacht eingezogen wurde, dauerhaft als Beigeordneter. Er bildete also das Kontinuitätselement in der Stadtregierung zwischen 1933 und 1945. In öffentlichen Reden und Zeitungsartikeln vertrat Wagner einen ins Extreme gesteigerten Führerkult. Als stellvertretender bzw. ordentlicher Bürgermeister seit 1941 bzw. 1944 hatte er die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens im Krieg zu organisieren – und die Folgen des von den Nazis verursachten Bombenkrieges zu ,verwalten‘. Wagner starb 1947im Internierungslager Landau an einem Herzinfarkt.
1933 bis 1934: Heinrich Ritter
Heinrich Ritter galt als einer der frühesten Aktivisten der NS-Bewegung in Rheinhessen und trat 1928 in die NSDAP ein. 1930 wurde er in seinem Heimatort Gau-Odernheim zum ersten NS-Bürgermeister Hessens gewählt. 1931/32 amtierte er zudem als Kreisleiter in Mainz und wurde Landtagsabgeordneter. Im Juli 1933 erfolgte seine Einsetzung als Binger Bürgermeister durch die Kreisleitung und im September 1933 seine ,Wahl‘ durch den gleichgeschalteten Stadtrat. Ritter galt überzeugter Antisemit. Jenseits seiner Rolle als Parteipropagandist hat er kaum Spuren in seiner kurzen Zeit an der Spitze der Stadtverwaltung hinterlassen. 1934 wurde Ritter zum Oberbürgermeister in Gießen, 1942 zum Stadtoberhaupt in Mainz berufen. Eine Beteiligung an nationalsozialistischen Verbrechen konnte ihm nicht nachgewiesen werden.
1934 bis 1943 Heinrich Nachtigall
Der Jurist Heinrich Nachtigall war 1928 als Beamter in die Landesfinanzverwaltung Thüringens eingetreten und wurde 1933 als Bürgermeister in Bensheim/Odenwald eingesetzt. Im selben Jahr trat er in die NSDAP ein. Im März bzw. Mai 1934 wurde er als Nachfolger von Heinrich Ritter als Stadtoberhaupt in Bingen installiert. Nachtigall gab die Förderung des ,Fremdenverkehrs‘ als Schwerpunkt seines Wirkens aus: Der Binger Weinabsatz wurde durch eine ,Patenschaft‘ der Stadt Leipzig und der Tourismus durch ,Kraft durch Freude‘-Touren angekurbelt. In der Pogromnacht am 10. November 1938 ließ Nachtigall Kultgegenstände aus der Binger Synagoge für das Heimatmuseum ,sicherstellen‘. Nach seiner Einberufung zur Wehrmacht 1940 übte er nur noch geringen Einfluss auf die Stadtverwaltung aus. Als Kriegsverwaltungsrat der 286. Sicherungs-Division wurde er zunächst in Frankreich, ab 1942 in Weißrussland eingesetzt, wo er 1943 angeblich von Partisanen erschossen wurde.“