Hildegards Sicht auf die Schöpfung
Orientierung in Zeiten des Klimawandels
Man kann sich auf den unterschiedlichsten Wegen Hildegard nähern, und fast immer spielt die eigene Weltanschauung dabei eine entscheidende Rolle: „Wie halt‘ ich’s mit der Religion? Ist mir die Prophetin vom Rupertsberg ein Vorbild? Will ich nach Grundsätzen der ‚Hildegard-Medizin‘ leben?“ Jeder und jede ist heute dazu eingeladen, „seine“ oder „ihre“ Hildegard von Bingen selbst zu finden. Die rundum „passende“ Hildegard für jeden Zugang und nach jedermanns (oder –fraus) Geschmack gibt es wohl nicht. An einem Punkt aber gibt es kaum unterschiedliche Meinungen: Für eine der größten Herausforderungen unserer Zeit, den Umgang mit dem Klimawandel oder besser noch: die Begrenzung des Klimawandels, kann uns Hildegard von Bingen mit ihrer Sicht auf die Welt und das, was sie im Innersten zusammenhält, auch im 21. Jahrhundert Anregung zum Nachdenken sein und Orientierung geben – über alle Parteigrenzen, Konfessionen und (fast alle…) Weltanschauungen hinweg.
Orientierung in den Zeiten des Klimawandels
„Ganze Ökosysteme kollabieren. Wir stehen am Anfang eines Massensterbens und alles, worüber ihr reden könnt, ist Geld und die Märchen von einem für immer anhaltenden wirtschaftlichen Wachstum – wie könnt ihr es wagen? […] Wie könnt ihr es wagen, weiterhin wegzuschauen und hierher zu kommen und zu sagen, dass ihr genug tut, wenn die notwendige Politik und die notwendigen Lösungen noch nirgendwo in Sicht sind. […] Ihr seid immer noch nicht reif genug zu sagen, wie es wirklich ist. Ihr lasst uns im Stich.“ – Mit diesen drastischen, anklagenden Worten wandte sich die damals 16-jährige Klimaschutzaktivistin Greta Thunberg auf dem UN-Klimagipfel in New York im September 2019 an die teilnehmenden Staats- und Regierungschefs aus aller Welt. Solche pointierten Botschaften sowie ihr couragiertes, kompromissloses Auftreten verschafften der jungen Schwedin ein hohes Maß an Beachtung in der westlichen Gesellschaft und ließen sie zur Symbolfigur im Kampf gegen den Klimawandel werden. Um CO2-Emissionen möglichst zu vermeiden, reist sie per Zug, Elektroauto oder Segelschiff selbst zu weit entfernten Konferenzen und Protestveranstaltungen, um vor großen Menschenmengen zu sprechen. Sie appelliert dabei energisch an die Verantwortung der Politiker, das Leben zukünftiger Generationen in einer intakten, „gesunden“ Umwelt sicherzustellen, und verlangt von den Entscheidungsträgern ein dementsprechendes sofortiges Handeln im Sinne einer erheblichen Intensivierung der Klimaschutzbemühungen weltweit. Ihre teils apokalyptisch anmutenden Schilderungen des Istzustands unserer Erde – auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos 2019 warnte sie: „Ich bin hier, um zu sagen, dass unser Haus brennt“ – inspirierten und mobilisierten Tausende Kinder, Jugendliche und Erwachsene, veranlassten aber auch den Historiker Niall Ferguson Greta Thunberg in ihrem wissenschaftlichen Anspruch zu hinterfragen und sie kritisch als „Anführerin einer Endzeit- und Erlösungsbewegung“ zu bezeichnen.
Als Hildegard von Bingen (1098-1179) zwischen 1160 und 1170 mehrere Reisen unternahm, um in den größeren Städten des Reiches noch rechtzeitig vor dem von ihr angenommenen, drohenden Weltuntergang ihre Stimme mahnend gegen den pflichtvergessenen Klerus, den einflussreichen ersten Stand der mittelalterlichen Ständegesellschaft und zuständig für das Seelenheil der Menschen, zu erheben, da befand sie sich in der Endphase ihres Lebens. Zu Fuß, mit Pferd, Schiff oder Kutsche war die Binger Äbtissin unterwegs nach Mainz, Würzburg, Bamberg, Lüttich oder Metz und legte pro Tag durchschnittlich 25 bis 30 Kilometer zurück. In Trier und Köln wandte sie sich vorwurfsvoll an den Klerus, der – mit verheerenden Folgen für den Menschen – in der Ausübung seiner geistlichen Aufgaben versagen würde: „Ihr seid Nacht, die Finsternis atmet, ein halsstarriges Volk, das vor lauter Wohlstand nicht mehr im Lichte wandelt […] Ihr seht nur das, was ihr selbst produziert habt; ihr tut und lasst nur, was euch grad gefällt […]. Ihr habt nicht mal Augen im Kopf, weil eure Werke den Menschen nicht leuchten im Feuer des Heiligen Geistes; ihr seid nicht imstande, das gute Beispiel vorzuleben. Wie die Winde über den Erdkreis dahinstürmen, so solltet ihr ein geistiger Sturm sein […]. Mit eurem leeren Getue aber verscheucht ihr bestenfalls im Sommer einige Fliegen.“ Den Grund für die gravierenden Versäumnisse der Seelsorger sah Hildegard in deren Streben nach materiellen Gütern: „Des ekelhaften Geldes und Geizes wegen bildet ihr nicht einmal mehr euer Volk aus, mit der albernen Ausrede: Wir können doch nicht alles tun! Und so zerstreuen sich die Leute und handeln in allem nach eigenem Gutdünken.“
Greta sowie Hildegard üben also beide harsche Kritik an den Mächtigen ihrer Zeit, die – aus ihrer Sicht – mit einem fahrlässigen Verhalten das Wohlergehen der Menschen leichtfertig aufs Spiel setzen. Konsequenz daraus ist bei beiden eine energische Aufforderung zur Umkehr.
Dabei überträgt Hildegard dem einzelnen Menschen eine entscheidende Verantwortung: Denn als Schöpfer der Welt ist Gott der einzigartige „Werkmeister“; dem von Gott vollkommen geschaffenen Menschen aber fällt die bedeutende Rolle seines „Werkmannes“ zu, der im Diesseits eigenständig zu wirken und zu gestalten vermag. Die Welt selbst sieht Hildegard als das dem Menschen nach dem Sündenfall von Gott gewährte Exil. Vor allem in ihrer dritten großen Visionsschrift, dem „Liber divinorum operum“ („Das Buch der göttlichen Werke“), zeichnet die Seherin ein detailliertes Bild von der Verbundenheit des Menschen mit der Schöpfung sowie von einer harmonischen Wechselbeziehung aller Lebewesen. Darin heißt es: „[Gott hat] den Menschen mit allem umgeben und gestärkt und hat ihn mit gar großer Kraft rundum durchströmt, damit ihm die ganze Schöpfung in allen Dingen beistünde. Die ganze Natur sollte dem Menschen zur Verfügung stehen, auf dass er mit ihr wirke, weil ja der Mensch ohne sie weder leben noch bestehen kann.“ Seine beherrschende Stellung als Krone der Schöpfung erklärt sich dadurch, dass einzig der Mensch von Gott mit einer vernunftbegabten Seele ausgestattet wurde. Diese Gabe der Vernunft hilft ihm zu wissen, was er zu tun und zu lassen hat. Aus der exzeptionellen Verfasstheit des Menschen leitet Hildegard seine besondere Verantwortung für ein gewissenhaftes Handeln seiner Umwelt gegenüber ab. Das Verhältnis zwischen Mensch und Schöpfung ist dabei gekennzeichnet von einer wechselseitigen Abhängigkeit, denn nach göttlichem Plan hat der Mensch den unmittelbaren Zugriff auf alles Irdische. Die Erde aber wiederum „ist die Schatzkammer für die, die auf ihr leben.“
Zum Menschen gehört Hildegard zufolge allerdings die Freiheit wesenskonstitutiv dazu, so dass jeder einzelne sich im Spannungsfeld zwischen guten und bösen Taten immer aufs Neue für die rechten Werke“ entscheiden muss. Gelingt ihm dies, „haben auch die Elemente ihre richtige Bahn; wenn er aber ungerechte Werke vollbringt, dann lenkt er die Elemente mit strafender Bedrängnis auf sich.“ Die mahnende Visionärin stellt das richtige Handeln also in das Ermessen des Menschen und fordert von ihm einen bewussten Entschluss.
Auch Greta Thunberg hebt auf diese Wahlmöglichkeit ab. Im April 2019 äußerte sie in London: „Die Menschheit steht jetzt an einem Scheideweg. Wir müssen jetzt entscheiden, welchen Weg wir gehen wollen. Wie wollen wir die zukünftigen Lebensbedingungen für alle lebenden Arten gestalten?“ Nach Hildegard von Bingen findet der Mensch nur im Einklang mit der Natur zum Heil. Im „Liber vitae meritorum“, dem „Buch der Lebensverdienste“, findet sich eine mögliche Orientierungshilfe: „Gott hat alle Dinge so eingerichtet, dass eins auf das andre Rücksicht nehme. Je mehr einer vom anderen lernt, wo er von sich aus nichts weiß, umso mehr wächst doch in ihm das Wissen. Daher besitzt er durch die Wissenschaft Augen, um auf sich zu achten, damit er nicht in eine Gefahr renne und sich darin aufs Spiel setzte. Wenn der Mensch nämlich nicht darauf achten würde, wem könnte er dann durch sein Befehlen vorstehen? Welches Geschöpf würde ihm gehorchen, und was in der Schöpfung würde ihm noch dienen? Mit Hilfe der Natur setzt der Mensch ja ins Werk, was für ihn lebensnotwendig ist.“