Missstimmung vor 100 Jahren: Als die neuen Glocken nicht erklangen

Es sollte vor 100 Jahren eigentlich ein Tag ohne emotionale Dämpfer werden. Jener 18. November 1923, ein Sonntag der Novembermitte, sollte als freudiges Ereignis in die Binger Geschichte eingehen.

Umfangen vom wirtschaftlichen Chaos der Hyperinflation, als Otto Normalverbraucher trotz Billionen und Milliarden Mark in der Tasche nicht reich war, sollte die Weihe der neuen Glocken der Rochuskapelle durch Domkapitular Max Lenhart ein festlicher Tag werden. Wenn sie dann zum Abschluss des Gottesdienstes „erstmals Ihre Klänge in das Rheintal hinabsendet, feierlich begrüßt von ihren Schwestern von den Türmen der ganzen Umgebung“, sollte dies die erhabene Krönung werden.

Die Glocken waren in den Tagen zuvor durch den Glockengießer und seine Mitarbeiter aufgehängt worden, aber „Im Augenblick, wo die geweihten Glocken freudig in das Te Deum einstimmen sollten, bereitete der Glockenstuhl ein unüberwindbares Hindernis für das Läuten von zwei Glocken.“ Näher ist das Problem nicht bezeichnet.

Spendenaufruf mit einer alten, beschädigten Glocke, Datum unbekannt"Den heutigen Tag, 18. November 1923, hatten wir uns ganz anders vorgestellt: leuchtende Sonne am klaren Himmel und begeisterte Stimmung in allen Herzen beim erstmaligen Geläute der neuen Glocken. Beides blieb uns versagt. Eine Enttäuschung mehr haben wir hingetragen zum Berge fehlgeschlagener Hoffnungen und Wünsche, der in letzter Zeit riesengroß geworden ist. Die Wächter des Heiligtums des hl. Rochus haben eine bittere Stunde durchlebt, als sie die Scharen erblickten, die unter aufgespanntem Regenschirm ihre missstimmten und verärgerten Gesichter versteckten und eiligst ins Tal hinunterstiegen“, berichtet die Mittelrheinische Volkszeitzeitung in der Ausgabe vom 24. November 1923.

Weiter heißt es „Es wird sofort die Arbeit am Glockenstuhl vorgenommen, so dass schon in den nächsten Tagen die Glocken selbst um Verzeihung bitten werden. Kommenden Sonntag aber werden sie jubelnd die Pilger begrüßen.“ Und so passierte es dann auch.

Nach 6 Jahren Stille war nun auch die Rochuskapelle nicht mehr glockenlos. Nachdem am 15. November 1923 in Deutschland die Rentenmark als erster Schritt zur Bannung der Hyperinflation eingeführt wurde, sollten auch die neuen Glocken für eine bessere Zeit stehen. Für die Hoffnung, dass die Wunden und Entbehrungen die der 1. Weltkrieg (1914-18) gerissen hatte und die mit der Rheinlandbesetzung und der folgenden galoppierenden Inflation noch verstärkt wurden, bald in eine neue Normalität übergehen würden.

Als Zeichen für die Zukunft eigneten sich die neuen Glocken in ganz besonderer Weise. Schließlich hatten ihre aus 1895 stammenden Vorgänger bereits 1917, nach nur 22 Jahren Dienst in der Rochuskapelle „von den Türmen heruntersteigen und dem Vaterlande dienen“ müssen.

Die neuen Glocken sollten die Erinnerung an jenen schmerzlichen 27. Juli 1917 mildern. Damals standen die Binger mit blutendem Herzen auf der Straße oder hörten durch die geöffneten Fenster zum Rochusberg hin. Denn von dort klang zum allerletzten Mal das Geläut in seiner Tonfolge e, g, a, und h, bevor sie es demontiert wurde um eingeschmolzen zu werden.

Heute wissen wir, dass es nur 19 Jahre dauern würde, bis auch jene Glocken aus 1923 im Frühjahr 1942, mitten im 2. Weltkrieg, in Hamburg-Wilhelmsburg eingeschmolzen wurden.