Die Gräff’sche Tabakfabrik brennt
Beim Lesen der zeitgenössischen Berichte spürt man in jeder Zeile das Entsetzen über das Geschehen am 17. Dezember 1929 in der Gaustraße 20 von noch „nie dagewesenem Ausmaß“: Die große Gräff’sche Tabakfabrik brannte lichterloh – ein Großbrand heute vor 95 Jahren.
„Über die Gaustraße hinweg bis weit in die Eisel flogen Myriaden von Funken. Aus dem brennenden Gebäude wirbelten die Flammen bald sich zusammenballend, mal bald riesige Zungen bildend, die Papier und Pakete raketenartig mit sich hochwirbelten und weite Strecken brennend dahintrugen. Ein Prasseln und Knattern, manchmal wie Maschinengewehrfeuer, untermischt von kleinen Explosionen, denen jedes Mal eine buntgefärbte, zumeist grünlich-blaue Stichflamme folgt. […] Armselig wirken die Strahlen der Schläuche, so viele auch auf das rasende Feuer speien, das Feuer lacht ihrer, es frisst und läuft weiter […]“, beschreibt die Mittelrheinische Volkszeitung in einem ausführlichen, zweiseitigen Artikel am 17.Dezember 1929 das Inferno.
Um 3.45 Uhr war das Feuer entdeckt worden. Um 4.10 Uhr alarmierte die inzwischen informierte Polizei die Feuerwehr. Die läutende Sturmglocke und die Sirene auf dem Dach der Tabakfabrik reißen die Binger aus dem Schlaf. Fragen nach dem Brandherd erübrigten sich, denn der Himmel über der Baustelle ist bereits glutrot erleuchtet und der Ort des Brandes eindeutig.
Die Feuerwehren aus Bingen, Bingerbrück und Büdesheim sind schnell zur Stelle. Wegen des Ausmaßes wird sofort auch die Feuerwehr Kempten alarmiert und ein Hilferuf an die Berufsfeuerwehr Mainz abgesetzt, die nach einer Stunde mit ihrer Motorspritze eintrifft.
Doch das Feuer fraß sich rasend schnell von dem 150 Meter langen Längsflügel am Naheufer von Gebäudeflügel zu Gebäudeflügel und von Stockwerk zu Stockwerk. Trotz aller Bemühungen konnte das „Wüten der Elemente“ nicht aufgehalten werden. Die großen Tabakbestände und der weitgehend aus Holz bestehende Innenausbau boten reichlich Nahrung. Der starke Westwind, der später auf Nord drehte, verstärkte die Flammen. Mauern und Türmchen barsten und stürzten ein.
Um 5.15 Uhr hatte das Feuer auch auf die Stallungen übergegriffen und die Feuerwehren mussten sich darauf beschränken, ein Übergreifen auf die Nachbarhäuser zu verhindern – was auch gelang. Man habe die angrenzenden Gebäude „aus allen verfügbaren Schläuchen unter Wasser gesetzt“.
„Nichts mehr bleibt übrig von der stolzen Fabrik, die einst ein industrieller Musterbetrieb Hessens war, die Bingens Namen weit in die Welt getragen hatte“, heißt es weiter in dem Artikel. Wenn auch die gesamte Fabrik niedergebrannt ist, so blieb dank der schützenden Wasserwand doch das Herrenhaus verschont, das allerdings „schwer unter dem Wasser gelitten hat“, Jenes Herrenhaus überlebte dann 15 Jahre später auch die Bombardements 1944/45 und steht heute noch.
Gegründet wurde die Tabakfabrik von Kommerzienrat Carl Wilhelm Gräff I., der am 26. März 1821 in Bingen geboren wurde. Er starb am 21. Juli 1878 auf einer USA-Geschäftsreise in Salt Lake City und sein Sohn Carl Gräff II. (jun.) übernahm die Leitung des Unternehmens.
1856-57 errichtete Gräff das Herrenhaus am östlichen Stadtrand in der damals noch wenig besiedelten Gaustraße. 1872-73 wurde der Gebäudeflügel entlang der Nahe errichtet, 1877-78 schließlich die äußeren und inneren Seitenflügel. Die Verlegung der Firma in die Gaustraße hing auch mit einem früheren Brand am 29. April 1850 zusammen, als die Tabakfabrik Gräff noch zwischen Rathausstraße und Amtsstraße ihre Geschäftsräume hatte. Durch äußerst ungünstige Umstände bei der Brandbekämpfung griff das Feuer damals auf rund 50 Gebäude in der Innenstadt über. Mehr dazu in einem späteren ArchivDingsTag.
Durch den Kauf von Mitbewerbern hatte das Unternehmen zusätzlich expandiert und besaß dadurch weitere Produktions-Standorte. Die Familie Gräff verzichtete auf einen Wiederaufbau der Fabrik in der Gaustraße. Die einsturzgefährdeten Mauern wurden abgerissen.
1934 übernahm die Firma A. Racke das Gelände und verlagerte ihren Firmensitz von der Schmittstraße in die Gaustraße. Sie errichtete neue Firmengebäude und residierte dort bis 1920.
ArchivDingsTag, 17. Dezember 2024