Der Mantelsonntag im 20. Jahrhundert

Anzeigenseite Mittelrheinische Volkszeitung vom 27. Oktober 1923Auch ohne eine Zeitumstellung begann früher – das heißt noch bis in die 1970er Jahre – mit dem Tag Allerheiligen die Wintersaison und zum Kirch- oder Spaziergang wurde der Wintermantel getragen. Da spielte es auch keine Rolle, ob die Witterung mild gestimmt und eigentlich noch ein bisschen zu warm war.

Der „gute“ (Sonntags-)Wintermantel, meist aus hochwertigerem Wolltuch wurde viele Jahre, ja sogar über Jahrzehnte getragen. Mäntel – und dabei ganz besonders jene die von der Dorfschneiderin oder in Eigenarbeit genäht waren – hatten üppige Nahtzugaben für zusätzliche Pfunde die man auslassen konnte. Wenn er gar nicht mehr passte, war der meist immer noch tadellose Stoff geeignet, um daraus in Zweitverwendung einen Kindermantel zu schneidern.

Persilwerbung aus dem Oktober 1923.Wenn dann doch ein neuer Sonntags- oder Werktagsmantel „fällig war“, wie man damals gerne formulierte, wurde dieser oft am verkaufsoffenen Sonntag vor Allerheiligen gekauft. Der Sonntagnachmittag war für die überwiegend von Landwirtschaft und Weinbau lebende Bevölkerung des Einzugsgebietes der freie Teil der Woche und ideal geeignet für einen Familieneinkaufstag. Für die Kinder gab es zum Beispiel gerne besuchte Kasperletheater-Vorführungen im Mainzer Hof. In der Zwischenzeit konnten die Eltern in Ruhe einkaufen.

Winterkonzert Männer-Gesangverein, Eintrittspreis 1.500 MilliardenEnde Oktober war die Weinlese vorbei und den vielen Helfern war der „Leselohn“ ausbezahlt worden. Die Winzer selbst hatten eine erste Abschlagszahlung für die bei der Genossenschaft abgelieferten Trauben in der Tasche. Fasswinzer wiederum vor Erntebeginn das eine oder andere „Stück“ Wein (1.299 Liter) verkauft, um im Keller Platz für die Lagerung des neuen Jahrgangs zu schaffen.

Schon während der Erntetage in den Weinbergen drehte sich die Unterhaltung immer wieder darum, was man sich für den Lohn kaufen wolle. Ein neuer Wintermantel und passende Schuhe standen dabei ganz vorne auf der Wunschliste. Und ein geflügelter Satz lautete „… und vielleicht reicht es ja sogar auch noch für ein neues Winterhütchen“. Für beides bot der nahe Feiertag eine wunderbare Möglichkeit zum „Ausführen“ der Kleidungsstücke, denn der Kirchgang zum Friedhof mit Totenfeier bot allen Teilnehmern reichlich Zeit, die Blicke über die vor den Gräbern verweilenden Angehörigen schweifen zu lassen. Danach unterhielt man sich gerne in der Familie und der Nachbarschaft, wer denn „einen neuen Mantel ausgeführt hatte“.

Zeitungs-Abo 550 MilliardenAlles ganz anders war es vor hundert Jahren im Jahre 1923. Es war die Zeit der galoppierenden Inflation (hierüber werden wir noch näher berichten) und einer schier unglaublichen Dynamik der Geldentwertung bis zum absoluten Zusammenbruch. Es scheint so, dass es in jenem Jahr auch keinen verkaufsoffenen Mantelsonntag gab.

Eine 1900 geborene Frau wollte im November 1923 ihren 5 Jahre älteren Verlobten heiraten. Nachdem die Trauben aus den elterlichen Weinbergen geerntet waren, gingen beide bei dem damals größten Binger Weingut Villa Sachsen noch fünf Wochen lang von Montag bis Samstag „in die Lese“. Er als Legelträger, sie als Leserin.

Von dem Lohn wollte man die Einrichtung des Schlafzimmers und der Küche bezahlen. Als die Erntehelfer dann schließlich ihren Tagelohn in Form von Notgeld erhielten, hatte die galoppierende Inflation fast den gesamten Wert aufgefressen. Hatte der Dollar am 16. Ok. 1923 noch einen Kurswert von 4,4 Milliarden Mark, war er am 29. Okt. 2023 bereits auf 65 Milliarden Mark gestiegen. Nachdem der Brautvater noch eine Stütze Wein (10 Liter) aus dem eigenen Keller dazu gab, reichte es gerade so für einen einfachen Küchenschrank.

Geheiratet wurde trotzdem. Das Schlafzimmer bestand erst einmal aus zusammengestückelten Altbeständen der ganzen Verwandtschaft. Gekocht wurde auf dem Herd bei den Eltern.

Jener Küchenschrank wurde immer in besonderen Ehren gehalten, weil er mit so viel Arbeit erwirtschaftet und das einzige eigene Möbelstück war, mit dem die beiden in die Ehe gehen konnten.