Das Internationale Lazarett auf dem Rochusberg
Als es am 6. September 1870 mitten im Deutsch-Französischen Krieg eingeweiht wurde, ahnte niemand, welche Naturkatastrophe ihm bevorstand. Der Kriegserklärung waren die Auseinandersetzungen um die spanische Thronbesteigung vorausgegangen, die in der „Emser Depeche“ gipfelten.
Nationale und internationale Zeitungen berichteten voller Hochachtung über das Feldlazarett und seine Ausstattung, die dem höchsten Standard der damaligen Zeit entsprach. Auch die schöne Lage, die zur Genesung beitragen sollte, wurde gelobt. Das Gelände lag zwischen der Rochuskapelle und dem Hotel Rochusberg (dem heutigen Kloster). Dort, wo sich heute die Pilger der Rochuswallfahrt mit Speisen und Getränken stärken können.
Der Holzboden der Zelte lag erhöht auf zwei Schwellen. In jedem Zelt standen 8 Rollbetten. Ein Ofen sorgte für Wärme. 200 Patienten konnten versorgt werden, ein Viertel davon waren französische Gefangene.
Eine Dampfmaschine pumpte Frischwasser aus der Stadt in einen eigenen Hochbehälter. Von dort führten Wasserleitungen durch das Lager. Die Abwässer wurden durch Steinröhren in ein entferntes Gebüsch geleitet. Jedes Zelt hatte einen Telegrafenanschluss, der wiederum mit der öffentlichen Telegrafenleitung am Bahnhof Bingerbrück verbunden war. So war es möglich, die Ankunft von Verwundeten rechtzeitig zu melden. Der Hauptanschluss für das Lazarett befand sich im Portierzimmer des Hotels Rochusberg. Dort waren auch die Kühlapparate und Eiskasten aufgestellt.
Für den Operationsbereich, Waschanstalt und Küche gab es hölzerne Häuser. Die Ärzte, Krankenschwestern und die sonstigen weiblichen Hilfskräfte wohnten im Rochusberg-Hotel.
Am Eröffnungstag besuchte der damalige Mainzer Bischof Freiherr von Ketteler die Soldaten, ging von Bett zu Bett und sprach ihnen Mut zu. Am 28. September 1870 inspizierten Kronprinzessin Victoria von Preußen und ihre Schwester Alice von Hessen das Lazarett. Beide waren Töchter der englischen Queen Victoria.
Warum wurde das Feldlazarett überhaupt gebaut? Als am 19. Juli 1870 Frankreich Preußen den Krieg erklärte und die Kämpfe begannen, wurden viele Verwundete per Bahn in Lazarette auf deutsches Gebiet gebracht. So auch nach Bingerbrück, das Hauptknotenpunkt und Etappenziel war. In Bingen gab es drei Lazarette mit 152 Betten und zwei kleinere in Bingerbrück.
Als jedoch während der Schlacht um Metz die vorhandenen Kapazitäten nicht mehr ausreichten, entschloss man sich, an zentraler Stelle ein weiteres Lazarett zu errichten. Die Wahl fiel auf Bingen und den Rochusberg. Finanziert wurde das Feldlazarett von der Deutschen Hilfsgesellschaft in London. Sie hatte zunächst Geld- und Sachspenden in Höhe von zwei Millionen Talern zur Verfügung gestellt. Geleitet wurde das Binger Feldlazarett von Prof. Dr. Ludwig Thudichum vom St. Thomas Hospital in London und Dr. Simon, dem Sanitätsoffizier des Geheimen [englischen] Rates.
Doch dann passierte völlig unerwartet etwas Entsetzliches. Am 26. Oktober 1870 erhob sich um 20.15 Uhr ein Unwetter mit einem Orkan „beispielloser Heftigkeit“. Wohl kein Haus in Bingen blieb verschont. Nach 45 Minuten verzog es sich so plötzlich wieder, wie es gekommen war.
Der Wirbelsturm hatte das gesamte Lazarett dem Erdboden gleich gemacht und alle die sich dort aufgehalten hatten unter sich begraben. Die Tochter einer Krankenschwester notierte: „Auch Mutter gab sich verloren, während die Franzosen unaufhörlich schrien ‚pas dans le Rhine‘ [nicht in den Rein]“. Die überraschten französischen Gefangenen glaubten nämlich irrtümlicherweise an einen deutschen Sturmangriff und daran, dass man sie in den Rhein werfen wolle. „So wehrten sie sich noch bei den Rettungsarbeiten und man hatte alle Mühe, sie in das Rochushotel zu schaffen, das große Risse zeigte und auf dessen Dach kein einziger Ziegel mehr war. Und das alles in finsterer Nacht; ein Glück, dass der Sturm alle Lichter gelöscht hatte, ein Brand hätte alles vernichtet“.
Bald darauf wurde ein Teil der Zelte wieder errichtet und neue Verwundete aufgenommen. Am 08. Dezember 1870 kam das Aus. Das Feldlazarett wurde nicht mehr benötigt. Durch den Vormarsch der deutschen Truppen konnten die meisten Verwundeten bereits in Frankreich versorgt werden.
ArchivDingsTag, 7. Mai 2024