Als die Binger mit Billionen Mark in der Tasche trotzdem nicht reich waren

Kraft-Post-Auto am 15. Mai 1923 im Hof des alten Postgebäudes in der BahnhofstraßeMillionen, Milliarden oder gar Billionen im Portemonnaie zu haben klingt erst einmal verlockend und super. Dass dem dann wohl doch nicht so toll war, lässt die mit „es war eine arme Zeit“ überlieferte Aussage einer Zeitzeugin vermuten. Und es wird greifbarer, wenn man weiß, dass am 26.11.1923 für ein einziges Ei bis zu 320 Milliarden Mark in Berlin zu bezahlen waren, 1 kg Roggenbrot kostete 470 Milliarden und für 1 kg Rindfleisch wurden 5 Billionen Mark aufgerufen.

Inflations-Geld-Gutschein der Stadt Bingen über fünfzig Millionen MarkWir blicken heute zurück in das Jahr 1923. Der verlorene Weltkrieg stürzte Deutschland in große wirtschaftliche Schwierigkeiten. Als es im Dezember 1922 mit den Reparationszahlungen des Versailles Vertrages in Rückstand geriet, kam es am 11.01.1923 zur Rheinland-Besetzung durch französische und belgische Soldaten.

Inflations-Geld-Gutschein der Stadt Bingen über zehn Billionen MarkDas linksrheinische Bingen stand bereits seit dem Kriegsende 1918 unter französischer Besatzung. Mit der Rheinland-Besetzung verschärfte sich die Lage. In den besetzten Gebieten gab es massive Ausweisungen. Betroffen waren besonders Beamte aus Verwaltung, Polizei, von Bahn, Post und Zoll. Rund 300 Familien mit 1.500 Personen (15% der Bevölkerung) mussten unsere Stadt verlassen, darunter am 09.02.1923 auch Bürgermeister Franz Neff und im rechtsrheinischen Hessen Unterschlupf suchen.

Der von der französischen Besatzung eingesetzte Zivilverwalter wurde zeitgenössisch als besonders rigide, als „päpstlicher als die französischen Generäle selbst“, beschrieben. So kam es täglich zu Verhaftungen und Gefängnisstrafen von einer Woche bis 3 Monaten wegen Übertretung der Nachtverkehrssperre, Passvergehen oder unberechtigtem Stehenbleiben, denn „Zusammenkünfte“ waren bis auf wenige Ausnahmen verboten.

Trotzdem leistete ein beachtlicher Teil der Bevölkerung weiterhin passiven Widerstand und folgte damit einem Aufruf von Reichskanzler Wilhelm Cuno. Die Folge war der Kollaps der Wirtschaft und eine galoppierende Inflation ins Unermessliche. Der damals elementar wichtige Eisenbahnverkehr brach zusammen und es kam zu einer katastrophalen Versorgungslage.

Anzeige des Binger Männer-Gesang-Verein zum 09.12.2023den Wertverlust der Hyperinflation wurde ständig nicht nur mehr Geld, sondern auch mit immer höherem Wert gedruckt. Die amtlichen Gelddruckereien konnten den Bedarf nicht mehr decken. Schließlich kam es so weit, dass die Städte vor Ort ihr eigenes Notgeld in Form von „Gutscheinen“ drucken mussten und die Binger mit Millionen, Milliarden und Billionen Mark in der Tasche zum Einkaufen gingen.

Am 26.09.1923 verkündete der neue Reichskanzler und spätere Außenminister Gustav Stresemann das Ende des passiven Widerstandes. Mit der Währungsreform und der Einführung der Rentenmark am 15.11.1923 wurde der Anfang vom Ende der Hyperinflation eingeleitet. Der Wechselkurs zur alten Papiermark war mit 1:1 Billion festgelegt.

Am 25.04.1924 stimmte Frankreich dem Dawesplan zu und damit einem für Deutschland umsetzbaren Plan zur Zahlung der Reparationen, die bis in das Jahr 2010 gestreckt wurden. Er bildete auch die Grundlage für den Vertrag von Rapallo im Jahre 1925 und die Aufnahme von Deutschlands 1926 in den Völkerbund.

Am 30.08.1924 führte die Reichsbank die goldgedeckte Reichsmark im Verhältnis 1:1 ein. Es kam zu einem bemerkenswerten Aufschwung und zu einer Zeit, die als die „goldenen Zwanziger“ in die deutsche Geschichte eingingen.