Leben in Hitze und Trockenheit – Spezialisten der Rheinhänge
Das Mosaik unterschiedlichster Lebensräume bietet vielen Arten ein Zuhause. Erfahren Sie mit allen Sinnen wie Pflanzen sich gegen Hitze schützen. Und wie das Weinhähnchen einen Hauch von Mittelmeer an den Rhein bringt.
Die Größte ihrer Art
Mitten in Europa liegt eine Felsregion von beeindruckender Größe. Das Obere Mittelrheintal bildet ihr Zentrum, umliegend zählen die Tallandschaften von Unterem Mittelrhein, Nahe, Lahn, Mosel und Ahr dazu. Hier finden viele Pflanzen- und Tierarten weit abseits ihrer eigentlichen Heimat passende Lebensräume.
Nach der letzten Eiszeit vor etwa 8.000 bis 10.000 Jahren war die Landschaft Mitteleuropas unbewaldet. Licht- und wärmebedürftige Pflanzen- und Tierarten aus den trocken-warmen Regionen des Mittelmeerraumes und der südosteuropäischen und innerasiatischen Steppengebiete verbreiteten sich bis ins Mittelrheintal. Diese Bewohner natürlich waldfreier bis waldarmer Lebensräume erreichten hier ihre nördliche bzw. westliche Verbreitungsgrenze. Mit der fortschreitenden Wiederbewaldung in den nachfolgenden Vegetationsphasen erfolgte eine Aufteilung des zunächst zusammenhängenden Areals. Die Felsbiotope am Mittelrhein und seinen Seitentälern wurden zu Rückzugsgebieten für licht- und wärmebedürftigen Arten. Auch einige Tiere und Pflanzen, die während der Eiszeiten aus der vergletscherten Alpenregion an den Mittelrhein geflüchtet sind, konnten sich hier über die Jahrtausende behaupten.
Spezialisten unter sich
Felsen und Gesteinshalden sind schwierig zu besiedelnde Lebensräume mit extremen Standortbedingungen. Die dunklen Schiefer des Mittelrheintals können sich in der Sommersonne auf Temperaturen von 60° C aufheizen. Zugleich besitzen die flachgründigen Böden keine Wasserreserven.
Die meisten Tiere können in solchen Extremsituationen an schattigere und feuchtere Plätze ausweichen. Die Pflanzen müssen sich mit Hitze und Trockenheit arrangieren. Viele Arten weisen daher besondere Anpassungen an das Leben unter diesen Bedingungen auf. Kleine Blätter, eine dicke Wachsschicht oder ein Filz aus Haaren schützen vor unnötigem Wasserverlust. Einige Arten speichern Wasser für Notzeiten, andere sind nur in den feuchteren Jahreszeiten aktiv. Auch der wohlriechende Duft, den viele Felspflanzen verströmen, dient ihrem Schutz: Durch die Verdunstung ätherischer Öle kühlen sie sich ab, ohne dabei Wasser zu verlieren.
Wie der Duft, so ist das Zirpen der Heuschrecken in den Felsbiotopen besonders intensiv. Der Gesang des Weinhähnchens bringt einen Hauch von Mittelmeer an den Mittelrhein.
Auch für das Auge haben die Felsen viel zu bieten. Schmetterlinge tummeln sich wie fliegende Edelsteine über den blütenreichen Hängen. Der Segelfalter ist der größte und auffälligste unter ihnen. Er patrouilliert gerne entlang der Felsen auf der Suche nach dem Partner seiner Wahl.
Vielfältig und außergewöhnlich
Die großen Felsen sind die artenreichsten Lebensräume im Mittelrheintal. Sie bilden ein Mosaik unterschiedlicher Bereiche, die jeweils von verschiedenen Arten besiedelt werden.
Auf dem nackten Stein leben seltene Moose und Flechten. Felsspalten und flachgründige Felssimse sind das Refugium für trockenheitsunempfindliche Spezialisten wie die Rheinische Dachwurz. Auf etwas tiefgründigeren Böden wachsen bunte Trockenrasen, die ihrerseits die Lebensgrundlage für eine vielfältige Tierwelt bilden. Schließlich finden sich selbst in den Felshängen auch Stellen, an denen Gehölze wachsen können.
Viele Tierarten benötigen das Nebeneinander dieser verschiedenen Felslebensräume. So sonnt sich die Smaragdeidechse auf nackten Felsen, in den Trockenrasen geht sie auf die Jagd nach Insekten, unter den Trockengebüschen findet sie Schutz vor Feinden wie auch vor der extremen Hitze.
Die unzugänglichen Felsenhänge des Mittelrheintals bieten selbst anspruchsvollsten Tierarten ein Zuhause. So geht an einigen Stellen die Gottesanbeterin auf die Jagd. Auch brüten hier der Uhu und der Wanderfalke.
Einige Arten besitzen im Mittelrheintal ihre bedeutendsten Vorkommen in Deutschland. So der Loreley-Dickkopffalter, der seinen Namen dem Felsen verdankt, an dem er erstmals beobachtet wurde. Oder die Bopparder Schleifenblume, die an zwei felsigen Hängen bei Boppard gar ihre weltweit einzigen natürlichen Vorkommen besitzt.
Felsen aus Menschenhand
Mit den Bahnlinien hat der Mensch im 19. Jahrhundert eine Infrastruktur geschaffen, die für die wirtschaftliche Entwicklung des Rheintals von überragender Bedeutung war. Als Nebenprodukt ist mit den Gleisanlagen ein neuartiger Lebensraum entstanden, wie es ihn in der Naturlandschaft nicht gab. Ohne Lücke ziehen sich die Gleise durch das Tal. Die Schotterkörper und Bahndämme ähneln in ihren Eigenschaften den Felsen. Der Schotter ist trocken, heiß und vegetationsarm, die Böschungen sind ein Mosaik aus rasenartiger Vegetation und Gebüschen. Besonders vielfältig sind die Lebensräume auf einem großen Bahnhof wie in Bingerbrück, wo Hallen und Lagerflächen hinzukommen.
Viele ursprünglich an Felsen beheimatete Pflanzen und Tiere haben die Bahnanlagen als neuen Lebensraum entdeckt. Den unbewachsenen Schotter lieben die Blauflügligen Ödlandschrecken. Der Knorpellattich schätzt trockene Standorte ohne lästige Vegetationskonkurrenz. Die Zauneidechse profitiert vom Nebeneinander unterschiedlicher Biotopelemente. Sie sonnt sich auf dem Schotter und geht an den Böschungen und Rainen auf die Jagd. Die Gebüsche bieten ihr Schutz. Ihre Eier lässt die Zauneidechse in den sandigen Böden der Dämme von der Sonne ausbrüten, sie selbst überwintert dort in Mauselöchern.